Prof. Alfred Fournier, 1894 (Vorlesungen)
Ich habe es mir zur Aufgabe gestellt, in einer Reihe von Vorlesungen, die bedeutungsvolle und wichtige Frage der Lues hereditaria tarda zu besprechen.
Ich will zuerst genau feststellen, was man unter Syphilis hereditaria tarda verseht und was wir unter dieser Bezeichnung zum Gegenstand unseres gemeinsamen Studiums machen wollen.
Ich weiss wohl, dass die Bezeichnung Lues hereditaria tarda in der Kritik so manchen Angriffspunkt bietet, ich behalte sie aber, nachdem ich ihre genaue Definition gegeben, wegen ihrer Bequemlichkeit und Kürze bei.
Unter Lues hereditaria tarda versteht man das Gesammtbild der Erscheinungen einer Syphilis, welche durch Vererbung veranlasst wurde, und welche in einem späteren Lebensabschnitte des Kindes auftritt, d. h. sich im Verlauf der zweiten Kindheit, oder während des Jünglingsalters oder wenn das betroffene Individuum schon erwachsen ist, bemerkbar macht.
Im Gegensatz zur Lues hereditaria precox, welche unmittelbar oder rasch auf die Geburt folgt, ist die Syphilis hereditaria tarda diejenige, deren Erscheinungen in einem von der Geburt entfernten Lebensalter auftreten, sei es nun, dass sie zu dieser Zeit zum ersten Male zu Tage treten, oder sei es, dass andere Symptome, welche denselben Ursprung hatten, in der allerersten Lebenszeit vorangingen.
Um keinen Zweifel in Ihnen aufkommen zu lassen, will ich die Sache durch Beispiele klarlegen.
Nehmen wir an, wir hätten ein Kind vor uns, welches von syphilitischen Eltern abstammt. Das Kind ist nahezu 12 Jahre alt geworden, ohne dass an ihm jemals irgend etwas, was den Verdacht auf Syphilis erwecken könnte, zu sehen war. Jetzt ist es mit Gummen oder einer Exostose, oder mit irgend einer anderen Affection behaftet, welche unzweifelhaft syphilitischer Natur ist.
Das ist für mich und für die anderen Fachgenossen dasjenige, was man im höchsten Sinne des Wortes als Syphilis hereditaria tarda bezeichnet.
Im Gegensatz zu diesem Fall beschreiben wir folgenden: Ein anderes Kind, welches ebenfalls von syphilitischen Eltern abstammt, war in den ersten Monaten seines Lebens mit verschiedenen Syphiliserscheinungen behaftet.
Einerlei, ob es damals behandelt wurde oder nicht, es wurde geheilt.
Dann 10, 12, 15, 20 Jahre später und ohne dass eine neue Ansteckung erfolgt wäre, tritt neuerlich eine Erscheinung der Syphilis auf.
Das ist ebenfalls ein Fall von tardiver ererbter Syphilis.
Mit einem Worte und in allgemeinster Weise, jede spezifische Erscheinung hereditärer Provenienz, welche sich im späteren Alter als in demjenigen zeigt, in welchem wir gewohnt sind, gewöhnlich die Erscheinungen der hereditären Syphilis zu sehen, kurz jene hereditäre Lues, welche nach dem 2. oder 3. Lebensjahre zum Ausdruck kommt, gehört in den Rahmen der Krankheit, welche wir übereinkommen, als Syphilis hereditaria tarda zu bezeichnen.
I.
Mein Bestreben, meine Herren, ist es, im Verlauf meiner Vorträge die nachfolgenden Lehrsätze, welche sich nach meiner Meinung zum Rang klinischer Wahrheiten erheben zu beweisen.
1. Der ererbte Einfluss der Syphilis beschränkt sich – im Gegensatz zu einem sehr begünstigten Vourrteil – nicht darauf, eine nur das früheste Alter betreffende Gruppe von Erscheinungen hervorzurufen.
2. Der Einfluss der ererbten Syphilis dauert über diese Zeit hinaus fort und verfolgt ihre Opfer noch während ihres späten Lebenslaufes.
3. Sie äussert sich dann und wann das erstemal an ursprünglich von dieser unglücklichen Erbschaft verschont gebliebenen Individuen in einem mehr oder weniger von der ersten Kindheit entfernten Zeitpunkte.
4. Sie erzeugt auf eine oder die andere Weise, d. h. sei es als Folge von Erscheinungen, die während der ersten Kindheit auftreten, oder auf den ersten Schlag, und zwar öfter als man im allgemeinen glaubt, im Verlaufe der zweiten Kindheit, im Jünglingsalter und an erwachsenen Individuen spezifische Erscheinungen.
5. Endlich ist zu bemerken, dass die in Rede stehenden Erscheinungen, welche, was ihre Ursache anlangt, fast immer verkannt und ungerechtfertigterweise zur Scrophulose gerechnet werden, zur Syphilis gezählt werden müssen, von welcher sie in Wirklichkeit hereditäre aber verspätete Äusserungen sind.
Man stellt sich die ererbte Syphilis ausschliesslich an die Kindheit gebunden vor.
Dies ist ein grosser Irrtum, oder besser gesagt, eine Meinung, die auf Grundlage zweier grosser Irrtümer entstand:
Der eine Irrtum ist der, dass manche glauben, dass ein Kind, welches in seiner frühesten Lebensperiode mit spezifischen Erscheinungen behaftet war, und durch eine antiluetische Behandlung von dieser befreit wurde, in späterer Zeit nichts mehr von Syphilis zu fürchten habe, und für immer von dieser Krankheit befreit sei.
Als zweiter verbreiteter und in besserem Ansehen stehender Irrtum ist die Ansicht zu bezeichnen, welche dahin geht, dass ein von syphilitischen Eltern stammendes Kind sicher der hereditären Syphilis entgangen ist, wenn es in den ersten Monaten oder den ersten Jahren seines Lebens keine für Syphilis sprechende Erscheinungen dargeboten hat.
Durch die folgenden Vorträge meine Herren, werden Sie sehen, ob diese beiden irrtümer durch die klinische Beobachtung verurteilt werden oder nicht.
: Prof. Alfred Fournier, Vorlesungen zur Syphilis hereditaria tarda. Übersetzt von Dr. Karl Körbl und Dr. Max v. Zeissl, Leipzig 1894