Prof. Dr. F. v. Baerensprung, 1864
(Buchauszug: Prof. Dr. F. v. Baerensprung, Die Hereditäre Syphilis. Eine Monographie, Berlin 1864, Einleitung)
Angeborene Krankheiten nennen wir alle solche, welche das Kind mit auf die Welt bringt; sie können ihm angeerbt, oder während seiner Entwicklung im Mutterleibe oder erst bei der Geburt eingepflanzt sein. Hereditär sind nur diejenigen, welche schon vor der Zeugung herstammen und durch den Samen des Vaters oder durch das Ei der Mutter in die entstehende Frucht gelegt sind. Hereditäre Krankheiten manifestieren sich nicht immer gleich bei der Geburt.
Die Heredität ist jenes wunderbare Gesetz, welches die individuelle Anlage des Vaters und die individuelle Anlage der Mutter, soweit sie sich nicht gegenseitig beschränken oder aufheben, in das befruchtete Ei legt und mit der Entwicklung derselben zu neuer individueller Gestaltung führt. Erbliche Übertragung ist also Gesetz, und nur Ausnahme ist es, wenn das, was in den Eltern liegt, beim Kinde nicht wiedergefunden wird.
Jedes Kind erbt von beiden Eltern, und die Behauptung, dass die Töchter mehr vom Vater, die Söhne mehr von der Mutter entlehnen, scheint nur insofern berechtigt, als weibliche Qualitäten bei der männlichen, männliche bei der weiblichen Descendenz auffallender sind.
Gleichartigkeit und Gegensatz in der Eltern Anlage werden für die meisten Nachkommen die Folge ebenmässiger Entwicklung haben, für andere zu einem oft erwünschten, doch immer gefährlichen Überwiegen einseitiger Befähigung; aber auch zu bedenklichen Excess oder Mangel führen können.
Da das befruchtete Ei die ganze Zukunft des Individuums gleichsam in eine einzige Zelle eingeschlossen birgt, so begreift es sich, dass Störungen, die es erfährt, mit der weiteren Entwicklung der Frucht sich leicht verallgemeinern werden. Auf der anderen Seite kann es, da alles Leben an einen stetigen Wechsel des Stoffes gebunden ist, leichtere Störungen ihrer normalmässigen Entwicklung selbstständig ausgleichen.
Vorübergehende und zufällige Verunstaltungen am Leibe der Eltern, welche die Individualität nicht wesentlich berühren, vererben sich nicht, und es ist sicherlich Fabel, wenn man behauptet hat, dass die Jungen von Hunden, denen man sie Schwänze abgehackt hat, schon mit Stutzschwänzen zur Welt kommen sollen.
Dass dagegen Missbildungen der verschiedensten Art, Albinismus, Ichthyosis, Mangel oder Überzahl der Glieder, Hypospadie u.s.w. oft durch Generationen und bei Mitgliedern derselben Familie selbst mehrfach sich wiederholen, ist eine Tatsache, die sich unmittelbar an die Vererbung der Gesichtszüge und alle übrigen sich tagtäglich bestätigenden Erscheinungen der Familienähnlichkeit anschliesst, die bald mehr bald weniger deutlich sich oft noch in entfernte Nebenlinien verzweigt.
Was die Krankheiten im engeren Sinne betrifft, so hat die Erfahrung längst bestätigt, dass besonders allgemeine, die gesammte Organisation in Anspruch nehmende Prozesse es sind, denen die hereditäre Übertragbarkeit als wichtigster und eigentümlichster Charakter zukommt. Die Geschichte der chronischen constitutionellen Dyscrasien, der Scrophulose, Tuberkelschwindsucht, der Elephantiasis, der Hämophilie, der Gicht, ist nur zu reich an Beispielen, wie eine durch unvorsichtige Wahl in die Familie eingeführte Anlage alle nachkommenden Glieder angreifen, oder nur bei einzelnen sich entwickeln; bei anderen in langer Verborgenheit noch auf späte Geschlechter nur wie ein Stoff zu Erkrankungen fortwirken kann.
Was von der körperlichen Anlage gilt, gilt auch von der Geistigen: wie der Habitus, der Character und die Talente der Eltern oft erst in vorgerückten Alter bei den Kindern zum Ausdruck kommen, so pflegt auch der erbliche Wahnsinn nicht vor den Jahren der Reife sich zu enthüllen.
Von besonderem Interesse sind jede Umwandlungen, welche das Erblichkeitsgesetz dadurch erfahren kann, dass für gewisse Formen krankhafter Bildung das männliche, für andere das weibliche Geschlecht eine größere Geneigtheit gibt.
Während wir den leichteren Graden ichthyotischer Hautentartung fast in gleicher Häufigkeit bei Personen männlichen und weiblichen Geschlechts begegnen, kommen die höheren Grade der Krankheit bei der männlichen Descendenz bis zu dem Maße überwiegend vor, dass, wie es in der bekannte Lambert'schen Familie durch fünf Generationen der Fall war, die Ichthyose nur in männlicher Linie fortfahrend, alle männlichen Nachkommen befällt, aber die weiblichen verschont. - Noch merkwürdiger sind jene in den Bluterfamilien beobachteten Beispiele, dass die Krankheitsanlage nur durch die weibliche Descendenz sich auf Söhne, Enkel und Urenkel überträgt, während ihre Mütter verschont bleiben.
Dass endlich der Lebensprozess, einmal abgelenkt von der richtigen Bahn, in den folgenden Generationen nicht immer die gleichen Wege wiederfindet; dass die Krankheit der Eltern oft in anderer Form und unter anderen Namen bei den Söhnen und Töchtern wieder erscheint, ist nicht minder gewiss.
Das Studium der erblichen Metamorphosen klärt die Verwandtschaft der Krankheiten am besten auf.
Am wenigsten sind noch die Folgen erforscht, welche aus den akut verlaufenden Dyskrasien für die Frucht sich ergeben.
Welchen Einfluss die nach exanthematischen Fiebern, nach Typhus, Intermittens zurückbleibenden Veränderungen des Organismus ausüben, wissen wir nicht.
Die Syphilis steht in vielen Beziehungen eigentümlich da: durch einen zufälligen Anlass, durch ein Gift entstanden, ruft sie eine dyskrasische Störung hervor, die nur langsam, vielleicht nie vollkommen den Körper
wieder verlässt.
Trotz zahlreichen Forschungen sind ihre erblichen Beziehungen zwar allgemein anerkannt, doch bisher nicht zur völligen Klarheit gebracht.
Wir werden die merkwürdige Tatsache kennen lernen, dass dieselbe Krankheit je nachdem sie vom Vater oder von der Mutter stammt, sich in wesentlich verschiedener Weise bei der Nachkommenschaft manifestiert.
Quelle: Prof. Dr. F. v. Baerensprung, Die Hereditäre Syphilis. Eine Monographie, Berlin 1864