Historisches zur Miasmatik

- Aus der Zeit Samuel Hahnemanns -

Miasma oder Contagium?

(Auszug aus der Reihe Epidemische Episoden, 2, Controverses zur Cholera, Europäische Resonanz zur asiatischen Seuche. Herausgeber: Hoffmann-La Roche AG, Grenzach, Redaktion Siegfried Leuselhardt, o. J. ca. 1975), Seiten 15-16

- Auszug Beginn -

Mit der Neuerscheinung der Cholera trat die alte Streitfrage wieder auf, wie denn eine Seuche entstehe. Zwei Lehren standen sich gegenüber: die der Miasmatiker oder Epidemisten und die der Kontagionisten. Beide kamen von klassischen Vorstellungen her.

Ein Miasma, wörtlich "Befleckung", ist seit Hippokrates eine schädliche Ausdünstung, die die Luft verdirbt und (als "mal aria") Fäulnis verursacht, aber auch selbst aus Fäulnis entstanden sein kann. Ein Contagium wiederum ist nach Galen, was Menschen mit krankmachenden Miasmen in Berührung bringt.

Diese Vorstellungen waren im Laufe der Zeiten der Pestilenz sowohl theoretisch definiert als auch empirisch erweitert worden. Die Theorie unterschied: Wenn es verderbliche Miasmen oder eine "constitutio epidemica" in Luft, Wasser, Boden gab, so konnten Seuchen spontan entstehen. Konnten sie es nicht, so war ein "contagium pestis ab origine mundis" erforderlich, das von einem Kranken zum anderen jeweils weitergegeben wurde. Die Empirie zwang zu Kompromissen: Die Epidemisten leugneten nicht, dass der nahe Umgang mit Kranken eine besondere Ansteckungsgefahr schuf; daher musste das Miasma durch eine Art Körperpassage kontagiös werden können. Die Kontagionisten konnten ihrerseits keine Kontagionsketten lückenlos nachweisen; daher musste das Contagium nicht nur an Körper oder Gegenstände fixiert, sondern auch flüchtig und durch die Luft übertragbar sein.

Bei den Cholerapandemien waren die Kontagionisten insofern in der besseren Position, als man den Gang der Seuche genau verfolgen und nicht bestreiten konnte, dass sie den Verkehrswegen entlang wanderte. Um so angelegentlicher bemühten sich die Epidemisten, zu beweisen, dass die Seuchenausbrüche nach Lokalität und Intensität keineswegs stets mit Kontagionen erklärbar waren. Gab es doch da und dort "explosive" Seuchenverläufe, die man schlechthin nicht auf eine additive Ansteckungskette zurückführen konnte. Andererseits wurden manche Menschen oder Örtlichkeiten ebenso rätselhaft von Miasmen oder Kontagien verschont.

Der nachmals berühmte Anatom Jakob Henle präzisierte 1840 in seiner Frühschrift "Von den Miasmen und Kontagien und von den miasmatisch-kontagiösen Krankheiten" (zu welch letzteren er die Cholera zählte):

Es breiten sich also Epidemien meist auf doppelten Wege aus, miasmatisch und kontagiös. Wenn man nun sieht, wie dieselbe Krankheit hier durch Miasma, dort durch Kontagien erzeugt wird, sollte man nicht sich bewogen fühlen, beides, Miasma und Kontagium als identische Stoffe zu fassen? Die Schule lässt es sich angelegen sein, beide Begriffe strenge auseinanderzuhalten. "Das Miasma" sagt sie "ist eine der Luft beigemischte und aussen entstandene Schädlichkeit, welche in den Körper eindringt, und selbst in unendlicher Menge Krankheit erregt, nach Art der Gifte. Das Kontagium dagegen ist eine Materie, durch eine Krankheit gebildet, welche im anderen dieselbe Krankheit veranlasst". Dagegen muss fürs erste bemerkt werden, dass man in praxi oft nicht imstande ist, zu entscheiden, ob eine krankmachende, der Atmosphäre beigemischte Potenz innerhalb eines kranken Körpers oder ausserhalb desselben gebildet, ob sie Miasma oder flüchtiges Kontagium sei... Es kann also mitunter eine nur graduelle Verschiedenheit sein, welche veranslasst, dass man dieselbe Krankheit bald für kontagiös, bald für miasmatisch hält...
Wenn aber Kontagium und Miasma identische Stoffe sind, so gilt vom Miasma dasselbe, was vom Kontagium gefunden wurde. Das Miasma der ersten miasmatisch-kontagiösen Krankheit, welches am Schluss der Krankheit als Kontagium wieder ausgeschieden wird, erweist sich dadurch als eine der Reproduktion fähige, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes aus inneren Gründen sich entwickelnde Materie, ist lebendig.

Das war das, was Henle als "Contagium animatum" bezeichnete, eine Materie, "mit individuellem Leben begabt, die zu dem kranken Körper im Verhältnisse eines parasitischen Organismus steht". Diese Auffassung sollte erst später, nach dem Erfolg der Bakteriologie Robert Kochs, zu Ehren kommen.

Vorerst anerkannten die meisten Miasmatiker wie Kontagionisten, dass es eine ganz monokausale Cholera-Ätiologie wohl nicht gebe. Neben dem Contagium - mortuum oder vivum - müsse für die Ansteckung auch eine individuelle Disposition gegeben sein, meinten die Kontagionisten. Vielmehr sei die Disposition objektiv, örtlich oder zeitlich bedingt und stelle die Voraussetzung für die Entwicklung eines Kontagiums dar, so die Miasmatiker, die damit die "epidemische Konstitution" auf die Jahreszeit oder den Boden bezogen.

Wie die Lehre der Kontagionisten zur modernen Bakteriologie, so führte die der Epidemisten zur modernen Hygiene. In einer Statistik der vier vorangegangenen Cholera-Epidemien schrieb der Berliner Medizinalrat Schütz 1849:

Ob das Agens der Cholera ein Contagium oder Miasma, ist mehr eine wissenschaftliche als praktische Frage.
Ist dieselbe ein Contagium, so muss die Entstehung und Fortpflanzung derselben vielen Bedingungen unterworfen sein. Jahreszeit und locale Verhältnisse der Stadtteile, Häuser und Bewohner müssen einen entschiedenen Einfluss auf dasselbe ausüben können... Ist das Agens der Cholera ein Miasma, so erklärt sich hierdurch zwar, weshalb die Krankheit an feuchten, sumpfigen, eingeschlossenen Orten mehr haftet als an anderen. Auffallend bleibt aber die Concentration der Fälle auf einzelne Häuser und das Verschontbleiben der gleichartigen Nachbarschaft...
Mag das Agens der Cholera ein contagiöses oder miasmatisches oder eine Vermischung von beiden sein, die Massregeln der Gesundheitspflege werden im Wesentlichen in allen Fällen dieselben bleiben.

Hingegen beklagte sich noch 1893 Robert Koch, es werde von staatlichen Stellen immer wieder betont, "dass die Gelehrten ja unter sich noch nicht einig seien".

- Auszug Ende -

Quelle: Auszug aus der Reihe Epidemische Episoden, 2, Controverses zu Cholera, Europäische Resonanz zur asiatischen Seuche. Herausgeber: Hoffmann-La Roche AG, Grenzach, Redaktion Siegfried Leuselhardt, o. J. ca. 1975

 

GESCHICHTE DER CHOLERABEHANDLUNG mit Homöopathie

Dr. U. Atzerodt, Allopathie und Homöopathie in der Cholerabehandlung (PDF), Artikel von 1893 in Villers "Archiv für Homöopathie" über die Cholera von 1831 in Deutschland.

Dr. W. Reil, Die Cholera-Epidemie in Halle a.S. von 1848 (PDF), Homöopathische Vierteljahreszeitschrift, Leipzig 1850

Dr. Kurtz, Die asiatische Cholera (PDF), Homöopathische Vierteljahreszeitschrift, Leipzig 1850

Weiteres folgt ....

 

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